Tomsk-7/Sewersk, Russland
Atomfabrik
Die Explosion der Atomanlage in Tomsk-7 führte zur radioaktiven Verseuchung einer Fläche von ca. 120 km², setzte Zehntausende Menschen einer erhöhten Strahlenbelastung aus und kontaminierte Luft, Wasser und Böden für viele Generationen. Diese Katastrophe ist vermutlich der folgenschwerste russische Atomunfall nach Tschernobyl und Majak.
Hintergrund
Die geheime sibirische Stadt „Tomsk-7“, die 1992 ihren historischen Namen Sewersk wieder erhielt, beheimatete mehrere Anlagen zur Urananreicherung und Herstellung von Plutonium für russische Atombomben und zivile Atomreaktoren. Außerdem wurden abgebrannte Brennstäbe wieder aufbereitet. In der geschlossenen Stadt lebten etwa 100.000 Bedienstete und ihre Familien. Am 6. April 1993 ereignete sich in der Wiederaufbereitungsanlage Tomsk-7 einer der folgenschwersten Unfälle der russischen Atomindustrie. An diesem Tag füllten Angestellte einen Atommülltank mit Salpetersäure, um Plutonium aus verbrauchten Brennstäben herauszutrennen. Es ist nach wie vor unklar, ob der Unfall durch technische oder menschliche Fehler verursacht wurde. Man glaubt, dass ein Mangel an Druckluft dazu führte, dass innerhalb weniger Minuten die Mischung aus Salpetersäure, Uran und Plutonium kritische Temperaturen erreichte. Die darauf folgende Explosion zerstörte den größten Teil der Anlage und setzte ca. 250 m³ radioaktives Gas, 8,7 kg Uran und 500 g Plutonium in die Umgebung frei. Die Gesamtmenge der ausgetretenen radioaktiven Partikel wird auf ca. 30 Terabecquerel Beta- und Gamma-Strahler beziffert (Tera = Billion) sowie ca. sechs Gigabecquerel Plutonium-239 (Giga = Milliarde). 1.500 m² rund um die Anlage wurden schwer kontaminiert, doch insgesamt wurde eine Fläche von etwa 120 km² verseucht, da diese von radioaktivem Niederschlag betroffen war. Die Explosion in Tomsk-7 wurde anhand der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) auf Stufe 4 eingeordnet – ähnlich hoch also, wie die Atomkatastrophe der Atomanlage Tokai-mura 1999 in Japan.
Folgen für Umwelt und Gesundheit
Am schwersten betroffen waren die Orte, über denen sich radioaktiver Niederschlag ereignete, wie die Dörfer Georgiewka und Nadeschda. Hier entstanden sogenannte „Hotspots“ mit erhöhter Radioaktivität von bis zu 30 µGy/h (etwa 100-mal mehr als die normale Hintergrundstrahlung). In den verseuchten Böden wurde ein signifikanter Anstieg von langlebigen Radioisotopen wie Cäsium-137 und Strontium-90 gemessen. Cäsium-137 kann, wenn es über Nahrung, Wasser oder die Atemwege aufgenommen wird, solide Tumore und auch Gendefekte bei folgenden Generationen verursachen, während Strontium-90 zu Leukämie führen kann. Im Rahmen der Aufräumarbeiten wurden mit Unterstützung aus dem Ausland ca. 577 g Plutonium vom Gelände der Anlage entfernt. Bemerkenswert dabei ist, dass die Menge an Plutonium, die sich im explodierten Tank befand, mit lediglich 450 g angegeben wurde, sodass es naheliegt, dass es schon vor dem Unglück Austritte von Plutonium in die Umgebung gegeben haben muss. In Schneeproben wurden noch Monate nach der Explosion erhöhte Werte der radioaktiven Stoffe Plutonium, Uran, Zirkonium, Ruthenium, Cerium, Niob und Antimon gemessen. Diese stellen für die Bevölkerung eine kontinuierliche Strahlenbelastung dar. Die Bellona Stiftung, eine norwegische Umweltorganisation, zählte insgesamt 30 größere Unfälle in der Atomanlage von Tomsk-7 und schätzt, dass pro Jahr etwa zehn Gramm Plutonium in die Atmosphäre ausgetreten sein müssen. Außerdem dokumentierte sie große Mengen an radioaktivem Abfall, die sich während der 50-jährigen Betriebszeit der Anlage auf dem Gelände angesammelt hatten. In unterirdische Depots gekippt oder in maroden Auffangbecken unter freiem Himmel liegend, stellen die radioaktiven Hinterlassenschaften der Atomindustrie bis heute eine akute Bedrohung für die örtliche Bevölkerung dar. 2008 wurden in einer Studie sowohl in Boden- als auch in Wasserproben erhöhte Belastungen mit Plutonium und Cäsium-137 nachgewiesen – vermutlich ein Hinweis auf weitere Lecks.
Ausblick
Dank des Abkommens zur Beendigung der militärischen Plutoniumproduktion zwischen Russland und den USA wurden im Juni 2008 einige Reaktoren in Tomsk-7 stillgelegt. Die Wiederaufbereitung von abgebrannten Brennstäben und die Deponierung von radioaktivem Abfall auf dem Gelände des heutigen Sibirischen Chemikalien Kombinats werden allerdings weiter fortgesetzt. Trotz erhöhter Konzentrationen von Plutonium, Strontium, Cäsium und anderer radioaktiver Substanzen in Boden und Wasser wurden keine aussagekräftigen medizinischen Studien in der Lokalbevölkerung durchgeführt. 2001 entschied das Verwaltungsgericht von Tomsk zugunsten verstrahlter Anwohner des Ortes Georgiewka, die gegen das Sibirische Chemikalien Kombinat geklagt hatten. Das Kombinat ist nun verpflichtet, jedem Kläger eine Entschädigung in Höhe von umgerechnet 860 US-Dollar zu zahlen. Während der laufenden Gerichtsverhandlungen sind laut der Bellona Stiftung 14 der 26 Kläger verstorben. Auch sie und die anderen Geschädigten durch die Radioaktivität von Tomsk-7 sind Hibakusha. Auch ihre Gesundheit wurde der Atomindustrie und der Produktion von Nuklearwaffen untergeordnet.
Quellen
- „The radiological accident at the reprocessing plant at Tomsk“. Internationale Atomenergie Organisation IAEO, Oktober 1998. www-pub.iaea.org/mtcd/publications/pdf/p060_scr.pdf
- Alimov R. „People vs. Siberian Chemical Combine.“ Website der Bellona Stiftung, 10.02.2001 http://bellona.ru/bellona.org/english_import_area/international/russia/nuke_industry/siberia/seversk/22031
- Gauthier-Lafaye F. „Radioisotope contaminations from releases of the Tomsk-Seversk nuclear facility.“ Journal of Environmental Radioactivity 2008 Apr;99(4):680-93. www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17996340
- Goulet M. „Siberia Nuclear Waste – Case 393“. American University Washington. www1.american.edu/ted/sibnuke.htm
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